Julius Schaaf                   Emmanuel Levinas

Bezüge sind das Leben
Zum 100. Geburtstag von Julius Schaaf (1.Okt. 1910-3. März 1994)

"Alles was ist, ist Beziehung, und alles was nicht ist, ist ebenfalls Beziehung. Die Beziehung ist das Absolute selbst und nur sie kann rechtens als das Absolute begriffen werden." Als Julius Schaaf, 1949 bis 1975 Professor für Philosophie in Frankfurt, 1965 diese These formulierte, dürfte sie selbst in der an eigenwilligen Köpfen so reichen Johann Wolfgang Goethe-Universität als Provokation empfunden worden sein. Immerhin beanspruchte der am 1. Oktober 1910 in Berlin geborene Philosoph - dem nichts ferner lag als Provokation - mit seiner "universalen Relationstheorie" die immer wieder gesuchte Universalmethode der Philosophie und mit der "Beziehung" ihre Urkategorie gefunden zu haben. In der Tat gibt Schaafs "relationsanalytische" Philosophie mancher scheinbar veralteten Aufgabenstellung eine überraschende Aktualität, etwa der Einbettungsweise des je Einzelnen in der Totalität aller Zusammenhänge nachzudenken: Schon 1975, als die sogenannte Chaos-Theorie gewiss noch nicht in aller Munde war, hat er im Zusammenhang seiner "Theorie der Letztelemente" vom "Chaotischen" der Totalität alles Seienden gesprochen, das den Elementen sozusagen freie Hand für ihren Selbstvollzug lasse.

Den Ausgangspunkt bildete seine Dissertation Geschichte und Begriff, eine kritische Studie zur Geschichtsmethodologie von Ernst Troeltsch und Max Weber, vorgelegt 1943, veröffentlicht 1946, sowie seine Untersuchung über das Verhältnis von Wissen und Selbstbewusstsein, vorgelegt 1943 in Tübingen als Habilitationsschrift, der eine Beziehungslehre des (gesellschaftlichen) Seins - Grundprinzipien der Wissenssoziologie (1956) - sowie die programmatischen Aufsätze Beziehung und Idee (1965) und Beziehung und Beziehungsloses (Absolutes) (1966) folgten. Den Nachlaß bilden u.a. die unveröffentlichte Studie Sein und Beziehung sowie zahlreiche Vorlesungsmanuskripte und -notizen zur Geschichtlichkeit (Max Weber), dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Ethik, zu Heidegger und Nietzsche, und nicht zuletzt zur "Geschichte der Theorien der Relation".

Es war nur konsequent, dass Schaaf, der grundlegenden Methode sowie der Tatsache gewiss, die nachhegelsche Philosophie um ihr vielleicht grösstes Thema bereichert zu haben, auf den "Bau" eines Systems verzichtet hat und in hermeneutischer Kärrnerarbeit in zahllosen Aufsätzen und Rundfunkvorträgen den Versuch unternahm, "von den verschiedenen vordersten Positionen aus, zu denen sich ein seiner selbst höchst bewusstes Denken vorgearbeitet hat, den Allzusammenhang des Seins und Denkens" relationstheoretisch zu gewinnen.

Geliebt - und man muß es im Sinne der altehrwürdigen philo-sophia betonen: ja, geliebt - hat er Goethe, den "Mittler", den Denker des beziehungshaften Seins, dem schon, lange bevor es allerweltsterminologisch werden sollte, Intersubjektivität selbstverständlich war: "Was sucht' ich den Weg so sehnsuchtsvoll / Wenn ich ihn den Brüdern nicht zeigen soll." Sprichwörtlich, d.h. methodisch, wurde mit Schaaf Goethes Wort "Bezüge sind das Leben".

Nicht nur seine ehemaligen Frankfurter Hörer, sondern auch jene, die Schaafs spätere Seminare nach seiner Pensionierung in Karlsruhe und Landau (zuletzt über Nietzsche) hörten, werden die glänzende Meisterschaft bezeugen können, mit der Schaaf die schon als "überwunden" geglaubten und philologisch in Gesamtausgaben "eingesargten" philosophischen Klassiker lebendig machte, indem er zeigte, daß es seit je die Beziehung war, die Ausgesetztheit des Menschen zur Welt, die zum Philosophieren zwang.

Mit Julius Schaaf hatte die systematische Philosophie der "Letztbegründung", wie sie vor allem in jener "anderen" Frankfurter Schule (Wolfgang Cramer, Karl Otto Apel) diskutiert wurde, einen ihrer herausragenden Vertreter. 

Eine "Schule" im eigentlichen Sinne hat Schaaf nicht gegründet; eine Philosophie aber, die sich als "Beziehungswissenschaft" auf das Erste und Letzte besinnt, bleibt auch im 21. Jahrhundert stets aktuell.

 

 

 

"Eine Zukunft denken, die Sinn hat, ohne daß ich dabei bin"

Interview Emmanuel Levinas-Christoph von Wolzogen, Paris 1989 (Auszüge)

[Für den Film des WDR "Liebesweisheit - Emmanuel Levinas, Denker des Anderen", den Henning Burk und ich 1989 drehten, wurden ca. 2 Stunden Interviewmaterial mit dem Philosophen in seiner Pariser Wohnung gedreht. Aus diesem Material wurden ca. 15 Minuten in den Film selbst eingeschnitten. Dazu wählte ich aus dem Arbeitsvideo entsprechende Passagen aus, die ich dann transkribierte und in eine thematische Reihenfolge brachte, die etwa den Gang des Films wiederspiegeln sollte. Nicht alle der folgenden Texte wurden in den Film aufgenommen; auch wurden Texte aus ihrem Kontext herausgenommen, in dem sie nun wieder stehen (kenntlich an den Ziffern). Zur besseren Lesbarkeit sind an wenigen Stellen Worte umgestellt, ergänzt oder ausgeklammert worden, ohne den authentischen Wortlaut anzutasten. Diese Auszüge des von Levinas und mir in deutscher Sprache gehaltenen Gesprächs hatte ich ursprünglich Frank Miething für seine Site www.levinas.de zur Verfügung gestellt].
   
Sorge

[11:00:39] Mein bescheidenes persönliches Unternehmen  Philosophie bestand mit einemmal damit, die Geistigkeit als Sozialität, als Verhältnis zum Anderen anders zu betrachten als einen speziellen Fall von Wissen, von Wissen und von Thematisieren. Und daß das Miteinandersein - was Heidegger Miteinandersein nennt - nicht nur ein Moment ist, ein wichtiges Moment des menschlichen Seins, sondern eine Art und Weise, die man weder durch Intentionalität noch durch Sorge bestimmen kann. [11:02:04]. [11:02:21] Ich meine ganz konkret, daß die Sorge ist eine Sorge um das Sein. Bei Heidegger steht der nicht genug bedachte Satz: Es geht dem Sein um das Sein selbst. Es ist absolument wahr. Das ist wahr erstens im tierischen Leben: Das tierische Leben ist durch ein Sein, dem das Sein das Wichtigste ist, dessen Leben ein Kampf um das Sein ist. Und man kann dieses Verhältnis zum Sein auch im Materialen selbst finden, insofern die Materie eigentlich ein Auf-sich-selbst-Zurückkommen ist, ein Sich-Verschließen, das atomische Verschließen auf sich selbst. Als ob diese Energie des Auf-sich-selbst-Zurückkommens der Sinn des Seins ist: um das Sein kämpfen. Und dann kommt im Seienden das menschliche Sein, dem es natürlich auch um dieses Sein selbst geht, aber wo die verrückte Möglichkeit ist - der Mensch ist ein verrücktes Tier -, daß um das Sein eines Anderen das eigene Sein, das eigentliche Sein - das eigene Sein, welches für Heidegger die Eigentlichkeit ist - kann geopfert werden. Für das Sein des Anderen, auch wenn man dem Anderen nicht sein Sein, seinen Tod abnehmen kann - das ist nicht wichtig -. Aber daß diese Möglichkeit eine als Sinn des Seins das Sein des Anderen ist, das ist das Ausgezeichnete, ganz Neue im Menschen und das, wo die Menschlichkeit... das ist die Sozialität selbst. Und das ist das Moment, das mir in meiner Analyse als ersten Ranges erschien und als das Hauptbedenkliche geblieben ist. [11:05:40].

Anders als Sein

[11:06:35] Das menschlich Sinnhafte ist nicht nur das Sein. Das Sein ist Ziel und Sinn des Lebens - das Sein selbst. Beim Menschen geschieht, wenn man sagen darf, etwas, was anders als Sein ist. [11:06:57].

Freiheit

[11:07:35] Sonst ist Freiheit Möglichkeit einer Existenz ohne Grenzen, ohne Sinn, reines Abenteuer für sich selbst. Ich glaube nicht an die gründliche Abenteuerlichkeit des menschlichen Seins. [11:08:00].

Freiheit - Heiligkeit

[11:08:48] Soweit ich ein Mensch bin, wirklich ein Mensch bin - ich meine, das ist keine Wahrheit der Statistik. Natürlich sind wir Menschen, wir alle, wir leben wie Tiere, wir kämpfen für das Sein: Aber das Ausgezeichnete im Menschen - in dem es ihn als Mensch definiert, also bestätigt - ist die Möglichkeit der Heiligkeit. Sich opfern für den Anderen, oder wie ich sage: für den Anderen sterben, ist Prinzip selbst der Heiligkeit. Der Mensch ist - ich definiere nie: der Mensch oder die Freiheit. Die höchste Freiheit besteht gerade darin, sich opfern zu können. In diesem Sinne ist Freiheit drinnen. Aber das Opfer als solches ist die Möglichkeit der Heiligkeit; denn ich glaube, daß der Mensch als Möglichkeit der Heiligkeit auch Prinzip seiner Freiheit und einer Dignität ist - gerade das ist eine Dignität, die den Menschen charakterisiert. Das ist auch eine Begründung, das ist der Sinn der Sozialität, der Sinn der gesellschaftlichen Verhältnisse als solchen. [11:10:21].

Antlitz

[11:10:42] Das Verhältnis zum Anderen ist Verhältnis zum Antlitz. Und Antlitz kann natürlich Thema einer Anschauung sein: wenn ich von jemandem spreche, von der Farbe seiner Augen, von der Linie seiner Nase, von der Höhe seiner Stirne. Aber ich habe das Verhältnis zum Antlitz in gewissem Sinne schon verloren, französisch kann man es sehr gut sagen: dévisager le visage, ich habe das Antlitz entantlitzt. Aber das Verhältnis zum Antlitz ist nicht Verhältnis zu einem Thema. Das Verhältnis zum Antlitz als solchem ist gar nicht intentional zu denken. Der Andere ist nicht mein Thema, wenn ich dem Antlitz begegne - in der Begegnis ist meine Ergebenheit an den Anderen das erste. Im Antlitz erscheint der Andere als nackt und verloren und einzig zu sein. Natürlich, diese Einzigkeit ist schon caché, jeder Mensch gibt sich einen gewissen Anstand. Im Anstand des Menschen wird seine Einzigkeit, eigentlich seine Sterblichkeit... Antlitz ist das Direkte, eine exposition, pure exposition... [INT.: Eine Ausgesetztheit] Eine Ausgesetztheit, natürlich, ja. Das Verhältnis zu dieser Ausgesetztheit ist nicht ein Betrachten dieser Ausgesetztheit, das ist schon das Verhältnis der Hingabe, des Gebens. Das Antlitz ist immer ein Antlitz als eine ausgestreckte Hand. Aber außerdem gibt es in diesem Verhältnis zum Antlitz noch ein zweites Moment: Dieses Gebe-mir, dieses Verlangen, diese Bitte ist auch ein Befehl. In diesem Sinne ist Antlitz ganz desobjektiviert, kein Gegenstand. In der Nacktheit, Verlorenheit, in dieser mortalité steckt ein Befehl. Und mir schien also hier das Wort Gott auf seiner richtigen phänomenologischen Stelle zu stehen. Wie soll ich sagen: Also die Situation, wo so etwas wie Gott ins Denken kommt, ist nicht die Schönheit der Welt und die Schöpfung, sondern gerade dieses »Du sollst nicht töten«, das mir durch diese Ausgesetztheit auf den Tod, durch diese Auswendigkeit des Gesichtes, des Antlitzes gesagt wird. [11:14:32].

Liebe

[11:17:23] Der Andere, den ich in seinem Antlitz anrede oder zu dem ich in seinem Antlitz verpflichtet bin, ist natürlich in diesem Moment der einzige auf der Welt. Ich meine, im Verhältnis zum Antlitz besteht hier nicht ein einziger Fall eines Genus; der Mensch fällt raus von seinem Genus und ist einzig. Ich meine, man kann dieses Verhältnis Liebe nennen; diese Fertigkeit der Opfer ist Liebe, das, was Pascal  "amour sans concupiscence" genannt hat. [11:18:19].

Stellvertretung (Geisel)

[11:18:36] Wer bin ich dabei in diesem Verhältnis? In diesem Verhältnis bin ich derjenige, der keinen Stellvertreter finden kann. Sonst ist das nicht Opferfertigkeit.[11:18:56]. [11:21:39] Ich bin der einzige in der Welt, als ob das Viel der Menschheit nicht das letzte Wort hat in der Allheit der Menschheit, ich im Zentrum stehe, genauso wie der Andere im Zentrum steht. In diesem Sinne ist in dem Verhältnis zu der Andersheit als solcher etwas ganz Neues, was sich gegenüber dem Ausdruck des tierischen Lebens ausspricht. [11:22:24].

Schuld als Erwählung

[11:19:40] Ich bin schuldig dem Anderen. Das beginnt damit...der Beginn meiner Schuld gegenüber dem Anderen liegt nicht in meiner Schuld, in den Sinne, daß ich schuld bin, ihm etwas schuldig bin, aber in dem Sinne auch, daß das nicht zufällig ist. Das ist keine Tyrannie des Seins, die auf meinen Schultern sich hinsetzt, sondern dabei bin ich gerade derjenige, der dazu fähig, der dazu berufen ist; das ist ein Beruf, wie an der Universität ein Beruf - ein Ruf. Und in diesem Sinne bin ich gewählt und bin auch einzig. Die Einzigkeit - genauso wie der Andere, der in diesem Verhältnis, in diesem Grundverhältnis aus seinem Genus, aus seinem menschlichen Genus herausgekommen ist, aus der Extension des Genus, aus der Extension des Begriffes rausgekommen ist: genauso bin ich in der Berufung einzig. Ich bin une unicité, eine Einzigkeit. [11:21:09] [11:18:43] Ich bin derjenige, der keinen Stellvertreter finden kann; sonst ist das nicht Opferfertigkeit. [11:18:56]. [11:21:39] Ich bin der einzige in der Welt, als ob das Viel der Menschheit nicht das letzte Wort hat in der Allheit der Menschheit, ich im Zentrum stehe, genauso wie der Andere im Zentrum steht. In diesem Sinne ist in dem Verhältnis zu der Andersheit als solcher etwas ganz Neues, was sich gegenüber dem Ausdruck des tierischen Lebens ausspricht. [11:22:24].

Der Dritte - Demokratie

[11:22:48] Die Menschheit ist eine Vielheit. In dieser Vielheit ist das Verhältnis zum Antlitz des Anderen, komme ich zu meiner Einzigkeit, aber sofort gibt es einen Dritten, der mir auch einzig ist. Und dann kommt die Frage, ob ich, wie ich die zwei Verhältnisse zusammen leben kann. Und da kommt die Notwendigkeit - sie ist logisch drin -, die zwei Enzigkeiten zu vergleichen, sozusagen sie wieder in einem Genus zu sehen und auf die logischen Verhältnisse zurückzukommen. Ich meine, wenn man es zuende denkt, kommt man zum Begriff eines Staates, einer Möglichkeit zur Beurteilung der Institution, der Notwendigkeit, Institutionen zu haben und in dem Staat ein Recht zu haben. Ich meine, von diesem rein menschlichen Verhältnis zum Anderen gibt es einen Weg zum kollektiven Leben in einem Staat. Denn man kann daraus nicht herauskommen, gerade weil die Menschheit eine Vielheit ist. Dann kommt aber die Frage - und ich will soweit nicht gehen -, die Frage, welche Art des Staates ist kompatibel mit dem Begriff der Einzigkeit jedes Menschen. [11:24:53]. [11:24:58] Ich glaube, das ist die größte Demokratie: Es ist in der Demokratie eine Möglichkeit, das Staatliche nicht als letzten Grund zu bedenken, und in diesem Sinne eine staatliche Autorität immer zu begrenzen, im Staat immer einen besseren Staat zu hoffen. Es gibt einen Weg, wo die Gerechtigkeit, die einen Staat verlangt, die ohne Staat nicht zustande kommen kann, immer schlechtes Gewissen hat und in diesem Sinne immer eine unendliche Perfektion des Staates versucht, so daß ein demokratischer Staat gerade ein Staat ist, wo das Tyrannische des Ordnungssagers nicht ewig ist. [11:26:07].

Demokratie

[11:25:02] Es ist in der Demokratie eine Möglichkeit, das Staatliche nicht als letzten Grund zu bedenken, und in diesem Sinne eine staatliche Autorität immer zu begrenzen, im Staat immer einen besseren Staat zu hoffen. Es gibt einen Weg, wo die Gerechtigkeit, die einen Staat verlangt, die ohne Staat nicht zustande kommen kann, immer schlechtes Gewissen hat und in diesem Sinne immer eine unendliche Perfektion des Staates versucht, so daß ein demokratischer Staat gerade ein Staat ist, wo das Tyrannische des Ordnungssagers nicht ewig ist. Und dann, daß auch in dem Staat, wo Gerechtigkeit ist, d.h. wo man doch die Leute, das Unvergleichliche vergleicht, wo man auf dieses Vergleichen immer zurückkommen kann, und wo man in dem Zurückkommen auf das Tyrannische immer etwas besseres suchen will. [11:26:42] [11:27:28] In diesem Sinne glaube ich, das ist vielleicht das Neue der modernen Zeit, die nach einer Periode, wo Demokratie immer als schändliches Wort ausgelacht worden ist, neue Zukunft hat, neue Möglichkeiten erweist, um das Menschliche in seinem Grundsinn wiederzufinden oder nie zu vergessen. [11:28:05].

Denken nach Auschwitz - Zehn Gebote

[11:30:15] Die große Erfahrung meines Lebens und der heutigen Menschheit in Europa sind natürlich die furchtbaren Jahre des Faschismus und des Nationalsozialismus, das muß ich Ihnen nicht sagen. Also ich meine, diese Erfahrung ist gründlich, das ist der Weg, ich will sagen, das, was Sie gesagt haben ist kein Resultat, nicht wahr, keine Bestätigung meiner Worte, aber es ist sicher der Weg, den ich gegangen habe mit meiner Generation. Das Sein, das Sein in seiner Sorge um dieses Sein selbst, hat uns dazu geführt: zum Krieg und zum...zu Auschwitz. Das ist der Weg. - Der zweite Sinn meines Weges: also der Anfang, wo ich das Menschliche als nicht nur in der Wahrheit sehe, in der Wahrheit, wo man sich verständigen kann... - Das war die Hoffnung Europas, daß der menschliche Frieden vom eigenen Wissen abhängt: dasjenige, was die Menschheit zusammenbringt und sie zum Frieden führt, ist die Wahrheit des Wissens; und wiedereinmal die Jahre unseres Jahrhunderts, die Erinnerung an die ganze Geschichte von so viel Blut und Tränen, die tausendjährige Geschichte von Blut und Tränen in einer Welt, wo das Wissen diesen Erstort gegenüber Werten hatte. - Und dann das Zurücksehen auf das zweite Moment Europas: auf die Bibel. Auf die Bibel, ich meine das Alte und Neue Testament, aber das Alte Testament ist das Gemeinsame, wo das Menschliche darin besteht, daß man den Nächsten liebt: »Du sollst nicht töten«. »Du sollst nicht töten«, das sagt nicht nur, daß du sie nicht mit deinem Messer, sondern daß tausend Wege sind, wo du tötest. Der Frieden hat seinen eigenen Weg, der nicht nur im gemeinsamen Wissen liegt. Und alles, was ich jetzt Ihnen -Sie müssen für das schlechte Deutsch verzeihen - gesagt habe, ist ein Versuch, wieder zum Menschen zu kommen, dem der liebe Gott den Nächsten anvertraut hat. Meine Sorge ist nicht meine Sorge um das Sein, sondern meine Sorge um den Anderen. Das ist sicher ein Zurückkommen auf diese Prinzipien, auf diese Sätze... Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es gibt eine Sage - eine Frage: Wie standen auf den zwei Tafeln, die Moses vom Berge Sinai gebracht hat, die zehn Gebote? Zwei Tafeln und zehn Gebote. Es gibt die erste Meinung: auf jeder Tafel waren sie alle zehn; das ist sehr gut, nicht wahr, wenn man sie wieder liest, hat man immer etwas Neues zu erfahren. Die anderen sagen: nein, es waren fünf auf einer Seite und fünf auf der anderen Seite. Wozu? Denn dann kann man sie auch horizontal lesen. Und dann liest man: Ich bin Gott, der Dich aus Ägypten herausgeführt hat, Du sollst nicht töten. Als ob der volle Monotheismus der Bibel besteht darin, man soll nicht töten. Das ist derselbe Satz; und diesen Satz zitiere ich sehr oft. Darin finde ich keine Begründung, aber den Sinn meiner Worte über das Erstrangige des Sozialen gegenüber dem Wissen, der Wahrheit. Nein? [11:36:40].

Nicht predigen

[8:51:11] Ich kann dem Anderen nicht predigen. Diese Obligation, diese Grundobligation gegenüber dem Anderen, damit beginne ich nicht meine Rede zu ihm, ich rufe ihn nicht dazu. Ich komme zum Anderen, um zu geben, nicht um zu fordern. [8:51:35].

Das Recht zum Recht - Caritas

[8:51:59] Man kann nur, was meine Pflicht ist, sagen. Man muß zum Staat kommen, wie ich eben gesagt habe: In der Mannigfaltigkeit des Staates, wo ich nicht der einzige bin, wo ich citoyen, wo ich Bürger bin, dort gibt es Korrelation und Reziprozität, dort ist Recht und Gerechtigkeit. Aber das Recht zum Recht - ist Caritas. [8:52:51]. [9:44:32] Ich sage das Wort Caritas, benütze das lateinische Wort, ich denke aber an das hebräische Chessed. Es steht im Alten Testament, wo es ganz außerordentlich den Begriff der "Chessed" der Liebe bezeichnet: das scheint die Liebe der Liebe, das scheint die Liebe als ganz unabhängig vom Lohn, die gratuit...die umsonste Liebe. [9:44:05].

Anfang der Philosophie

[8:53:32] Das Unrecht im Staat ist Bedingung, der Anfang der Philosophie. Das erste im Menschsein ist nicht Philosoph sein, aber das erste, was er betrachtet, ist sein Menschsein. Das erste Thema ist Mensch sein. [8:54:02].

»Glück« nach Auschwitz

[9:09:00] Auch wenn die Pflicht ohne Reziprozität vorkommt, hat sie Sinn. Das ist das Wichtige. Ich werde Ihnen diese Sachen ganz offen sagen: Nach Auschwitz darf man alles bestreiten, alles betrachten als sinnlos, weil keine Antwort auf dieses Leiden kommt oder dieses Leiden ihren guten Sinn hat ohne Antwort. Eine gewisse craint, eine gewisse Vorsichtigkeit gegenüber dem Begriff des Glücks, um das Menschliche als Menschliches zu betrachten und weiter betrachten zu können, ist wahrscheinlich der Grund dieser Vorsicht gegenüber den Begriffen des Glücks. [9:10:43]. [9:12:47] In der Anspielung auf Auschwitz muß man Frieden ohne Glück betrachten können. Ich meine, daß eine gewisse Haltung, wenn sie auch kein Glück bringt, kann Sinn haben. [9:13:20].

Pflicht ohne Glück

[9:14:41] Man kann die Pflicht des Anderen nicht beschweren durch diese Möglichkeit einer Pflicht ohne Glück. [9:14:41] [9:15:06] Es gibt ein altes Wort - ich werde Ihnen das sagen am Ende - in den alten jüdischen Büchern, wo steht: Du sollst dem lieben Gott dienen, nicht als jemand, der auf einen Lohn rechnet, sondern als jemand der liebt ohne Lohn. [9:15:30].

Verständigung das Wichtigste für die Zukunft?

[9:17:23] Ja, Verständigung, Frieden...also... ja, wie alte Bücher sagen: Liebet miteinander, untereinander. Aber das Wichtige dabei: auch ohne mir. Das ist das Letzte eigentlich: eine Zukunft zu denken, die Sinn hat, ohne daß ich dabei bin. D.h. das ist nicht der Gedanke eines ewigen Lebens, aber ein Gedanke der Möglichkeit, den Tod anzunehmen, auch wenn die Anderen den Frieden genießen. Das ist ein Prinzip des Opfers. [9:18:49].

Glück

[9:34:42] Ich spreche nicht oft, ich benütze nicht den Begriff von Glück für Glückseligkeit. Ich will damit anspielen auf das unvergeßliche Faktum von Auschwitz. Auch wenn dieses ganze Leiden ohne Lohn bleibt, finde ich, daß es doch seinen Sinn behält. In diesem Sinne will ich nicht von Glück sprechen. Man kann eine Welt ohne mir denken, aber ich sage all das nicht als »schöne Seele«, es ist wahrscheinlich unmöglich, sowas zu fühlen, man kann aber, man muß aber so denken. [9:36:15].

Frieden vor der Wahrheit

[9:36:43] Damit die Politiker gut denken, müssen sie Philosophie treiben. Ich meine, das ist unmöglich, über solche Sachen nicht zu denken, aber ich habe darüber konkret keine Meinung. Aber daß die Philosophie des Friedens die richtige Philosophie ist, geht vor jeder Wahrheit, geht jeder Wahrheit voran. [INT.: Sie haben...] Ich habe einen Text, wo man die zwei Sachen vergleicht: Wahrheit und Frieden, und der Frieden kommt zuvor. Gott ist Gott des Friedens, bevor er Gott der Wahrheit ist. [9:37:59].

Liebe ohne Lohn

[9:15:06] Es gibt ein altes Wort - ich werde Ihnen das sagen am Ende - in den alten jüdischen Büchern, wo steht: Du sollst dem lieben Gott dienen, nicht als jemand, der auf einen Lohn rechnet, sondern als jemand der liebt ohne Lohn. Ich habe das Wort einmal mit einem ganz ausgezeichneten Menschen, der sehr gut die Geschichte des jüdischen Denkens kennt - er ist Christ -, habe ihm das vorgetragen. Da hat er mir gesagt: das war ein Gedanke der Sadduzäer. D.h. eine Sekte hat es gedacht - nicht das Judentum. [9:16:12].